25. 09. 2018, 09:05
Hallo,
gestern noch getippt, heute abgeschickt...: Ich habe mal etwas formuliert, was ich "Tarifaxiom" nenne. Es lautet: "Ein Tarif ist entweder einfach oder gerecht."
Das ist nicht absolut zu verstehen, sondern erlaubt beliebige Zwischenstufen. Beispiel 1: Einfach aber ungerecht: Der Einheitstarif ab 1943. Es gab für das SSB-Netz Kinder- und Erwachsenenfahrscheine. Egal wie weit man fuhr, immer die gleiche Taxe. Hohenheim - Gerlingen kostet dasselbe wie Schwimmbad - Platz der Marie.
Beipiel 2: Kompliziert aber ziemlich gerecht: Kilometertarif bei der Eisenbahn, in Verbindung mit IC-Zuschlag. Man bezahlte für die unterschiedliche Qualität der Beförderung und für die Länge der befahrenen Strecke. Alleine mit einem Blick in die Streckenkarte ist der Fahrpreis nicht zu ermitteln, hier sind Kenntnisse über die Entfernungen und über die befahrenen Strecken notwendig. Fahrausweise über eine bestimmte Strecke galten nicht notwendigerweise über andere Strecken, wenn diese mehr Tarifkilometer betrug.
Beispiel 3: Kompliziert, aber ziemlich gereicht: Teilstreckentarif: Man bezahlt nur die Anzahl der durchfahrenen Teilstrecken, wobei es beim Modell 1937 auch schon Fahrscheine für jeweils zwei aufeinanderfolgende Teilstreckenanzahlen gab, also 1 oder 2 T., 3 oder 4 T., ... Der Witz an diesem Modell ist, dass man zwar nicht wie beim Kilometertarif ab jedem Punkt im Netz eigene Tarifentfernungen hat, aber durch die Kleinteiligkeit des Tarifnetzes kann man die Entferung als Basis des Fahrpreises noch relativ scharf abbilden. Ähnlich wie bei 2. ist die Fahrpreisermittlung eher komplex und verliert daher auch hier an transparenz.
Beispiel 4: Kompromiss: Zonentarif: Man vereinfacht das Netz in grobe Brocken und zieht möglichst sinnvolle Grenzen.
Hierzu ist anzumerken, dass hier die Kombination aus Liniennetzstruktur und Zoneneinteilung zu Ungerechtigkeiten führen kann.
Bereits im bisherigen Tarifzonenplan waren einige Wege durch die Struktur des Netzes begünstigt, z. B. die Verbindung Hedelfingen-Weilimdorf. Durch die teilweise politisch gewollte Grenzziehung bei den Tarifzonen gibt es die skurrile Situation, dass es vom Zollberg nach Nellingen ebensoviel kostet wie vom Zollberg nach Weilimdorf oder vom Zollberg nach Fellbach oder von Fellbach nach Korntal. Schuld daran ist zumindest zum Teil die Vereinfachung des Zonenplans (also die Verungerechtigung) durch die Verschmelzung der Zonen 20,21 und 22 zur Ringzone 20.
Aus meiner Sicht sind komplette Ringe als Zonen eine ziemlich ungerechte Sache, weil das Stuttgarter Netz in der Periperie sehr ungleichmäßig vermascht ist. Das Befahren von Tangentiallinien wird billiger, wer keine Tangentiallinie hat, fährt dank S- und Stadtbahn noch nicht mal unbedingt länger (zeitlich gesehen), aber durch das stark radial geprägte Netz bezahlt er mehr als der, der eine Tangente hat. Als Jugendlicher stand ich vor der Wahl: mit dem 91er von Feuerbach nach Botnang fahren oder durch die Stadt? In den Sommerferien, wo ich kein Abo hatte, war die Frage: eine Zone mehr durch die Innenstadt oder schon um 18.30 ab Feuerbach, danach gabs nichts mehr und Samstags war sowieso Stundentakt (Mo-Fr. auch, aber da gabs immerhin noch einen Mittags-Schülerkurs). Auch heute ist nicht unbedingt einsichtig, warum eine Fahrt von Rohr nach Heumaden oder von Hedelfingen zum Giebel weniger kostet als eine von Degerloch zum Schlossplatz.
Im Hinblick auf die aktuelle Tarifreform muss man konstatieren, dass man sie nicht für die Struktur mit den Ringen kritisieren kann, wenn genau das eine Prämisse war (und das war m. E. so): Die Zonengrenzen innerhalb der Ringe sollten wegfallen. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich durch meine Befassung mit der Materie betriebsblind bin, oder ob die Entscheider, die ins Horn der Opportunität geblasen haben und das Tarifsystem "zum Wohle der Nutzer" vereinfacht haben, einfach so selten mit dem ÖPNV zu tun haben, dass sie keine genaue Vorstellung haben, wie das Tarifsystem funktioniert. Ungeklärt ist m. E. auch nach wie vor die Frage, wie viel Befassung mit einem Tarifsystem man einem Nutzer zumuten darf. Wenn ich in Diskussionen mit nicht-ÖV-affinen Bürgern stehe, höre ich oft: Das ist alles so kompliziert. Wenn ich dann entgegne: Sie müssen doch nur die Haltestelle heraussuchen und den Code eingeben, dann kommt immer gleich: Ja, aber Einzelfahrscheine sind ja die teuerste Lösung. Und da sind wir halt auch bei einem Grundsatzproblem: Es muss billig und einfach sein. Oder wenn schon nicht billig, dann wenigstens gerecht. Und da sind wir wieder am Anfang: Ein Tarif ist entweder einfach ODER gerecht.
Viele Grüße
BW76
Epilog: Im Grunde kann man sehr komplexe aber gerechte Tarife für den Anwender sehr einfach machen, indem man eine Best-Value-Abrechnung etabliert, wie dies die SSB aktuell testet. Der Nachteil dieses Systems ist aber der Blackbox-Charakter. Man sieht nicht, was man schon verfahren hat und wie sich künftige Fahrten auswirken werden, es sei denn, es gäbe da eine Funktion, mit der man immer den aktuellen Stand abfragen kann. Aber auch hier wäre die dahinterliegende Berechnung relativ komplex und erst einmal intransparent. Diese Chance hat man m. E. mit der aktuellen Tarifreform für lange Zeit vertan. Eine Abrechnung nach Best-Value-Verfahren ist zwar weiterhin möglich, aber auf der Basis eines eher ungerechten Ringzonensystems.
gestern noch getippt, heute abgeschickt...: Ich habe mal etwas formuliert, was ich "Tarifaxiom" nenne. Es lautet: "Ein Tarif ist entweder einfach oder gerecht."
Das ist nicht absolut zu verstehen, sondern erlaubt beliebige Zwischenstufen. Beispiel 1: Einfach aber ungerecht: Der Einheitstarif ab 1943. Es gab für das SSB-Netz Kinder- und Erwachsenenfahrscheine. Egal wie weit man fuhr, immer die gleiche Taxe. Hohenheim - Gerlingen kostet dasselbe wie Schwimmbad - Platz der Marie.
Beipiel 2: Kompliziert aber ziemlich gerecht: Kilometertarif bei der Eisenbahn, in Verbindung mit IC-Zuschlag. Man bezahlte für die unterschiedliche Qualität der Beförderung und für die Länge der befahrenen Strecke. Alleine mit einem Blick in die Streckenkarte ist der Fahrpreis nicht zu ermitteln, hier sind Kenntnisse über die Entfernungen und über die befahrenen Strecken notwendig. Fahrausweise über eine bestimmte Strecke galten nicht notwendigerweise über andere Strecken, wenn diese mehr Tarifkilometer betrug.
Beispiel 3: Kompliziert, aber ziemlich gereicht: Teilstreckentarif: Man bezahlt nur die Anzahl der durchfahrenen Teilstrecken, wobei es beim Modell 1937 auch schon Fahrscheine für jeweils zwei aufeinanderfolgende Teilstreckenanzahlen gab, also 1 oder 2 T., 3 oder 4 T., ... Der Witz an diesem Modell ist, dass man zwar nicht wie beim Kilometertarif ab jedem Punkt im Netz eigene Tarifentfernungen hat, aber durch die Kleinteiligkeit des Tarifnetzes kann man die Entferung als Basis des Fahrpreises noch relativ scharf abbilden. Ähnlich wie bei 2. ist die Fahrpreisermittlung eher komplex und verliert daher auch hier an transparenz.
Beispiel 4: Kompromiss: Zonentarif: Man vereinfacht das Netz in grobe Brocken und zieht möglichst sinnvolle Grenzen.
Hierzu ist anzumerken, dass hier die Kombination aus Liniennetzstruktur und Zoneneinteilung zu Ungerechtigkeiten führen kann.
Bereits im bisherigen Tarifzonenplan waren einige Wege durch die Struktur des Netzes begünstigt, z. B. die Verbindung Hedelfingen-Weilimdorf. Durch die teilweise politisch gewollte Grenzziehung bei den Tarifzonen gibt es die skurrile Situation, dass es vom Zollberg nach Nellingen ebensoviel kostet wie vom Zollberg nach Weilimdorf oder vom Zollberg nach Fellbach oder von Fellbach nach Korntal. Schuld daran ist zumindest zum Teil die Vereinfachung des Zonenplans (also die Verungerechtigung) durch die Verschmelzung der Zonen 20,21 und 22 zur Ringzone 20.
Aus meiner Sicht sind komplette Ringe als Zonen eine ziemlich ungerechte Sache, weil das Stuttgarter Netz in der Periperie sehr ungleichmäßig vermascht ist. Das Befahren von Tangentiallinien wird billiger, wer keine Tangentiallinie hat, fährt dank S- und Stadtbahn noch nicht mal unbedingt länger (zeitlich gesehen), aber durch das stark radial geprägte Netz bezahlt er mehr als der, der eine Tangente hat. Als Jugendlicher stand ich vor der Wahl: mit dem 91er von Feuerbach nach Botnang fahren oder durch die Stadt? In den Sommerferien, wo ich kein Abo hatte, war die Frage: eine Zone mehr durch die Innenstadt oder schon um 18.30 ab Feuerbach, danach gabs nichts mehr und Samstags war sowieso Stundentakt (Mo-Fr. auch, aber da gabs immerhin noch einen Mittags-Schülerkurs). Auch heute ist nicht unbedingt einsichtig, warum eine Fahrt von Rohr nach Heumaden oder von Hedelfingen zum Giebel weniger kostet als eine von Degerloch zum Schlossplatz.
Im Hinblick auf die aktuelle Tarifreform muss man konstatieren, dass man sie nicht für die Struktur mit den Ringen kritisieren kann, wenn genau das eine Prämisse war (und das war m. E. so): Die Zonengrenzen innerhalb der Ringe sollten wegfallen. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich durch meine Befassung mit der Materie betriebsblind bin, oder ob die Entscheider, die ins Horn der Opportunität geblasen haben und das Tarifsystem "zum Wohle der Nutzer" vereinfacht haben, einfach so selten mit dem ÖPNV zu tun haben, dass sie keine genaue Vorstellung haben, wie das Tarifsystem funktioniert. Ungeklärt ist m. E. auch nach wie vor die Frage, wie viel Befassung mit einem Tarifsystem man einem Nutzer zumuten darf. Wenn ich in Diskussionen mit nicht-ÖV-affinen Bürgern stehe, höre ich oft: Das ist alles so kompliziert. Wenn ich dann entgegne: Sie müssen doch nur die Haltestelle heraussuchen und den Code eingeben, dann kommt immer gleich: Ja, aber Einzelfahrscheine sind ja die teuerste Lösung. Und da sind wir halt auch bei einem Grundsatzproblem: Es muss billig und einfach sein. Oder wenn schon nicht billig, dann wenigstens gerecht. Und da sind wir wieder am Anfang: Ein Tarif ist entweder einfach ODER gerecht.
Viele Grüße
BW76
Epilog: Im Grunde kann man sehr komplexe aber gerechte Tarife für den Anwender sehr einfach machen, indem man eine Best-Value-Abrechnung etabliert, wie dies die SSB aktuell testet. Der Nachteil dieses Systems ist aber der Blackbox-Charakter. Man sieht nicht, was man schon verfahren hat und wie sich künftige Fahrten auswirken werden, es sei denn, es gäbe da eine Funktion, mit der man immer den aktuellen Stand abfragen kann. Aber auch hier wäre die dahinterliegende Berechnung relativ komplex und erst einmal intransparent. Diese Chance hat man m. E. mit der aktuellen Tarifreform für lange Zeit vertan. Eine Abrechnung nach Best-Value-Verfahren ist zwar weiterhin möglich, aber auf der Basis eines eher ungerechten Ringzonensystems.