12. 03. 2023, 20:54
(09. 03. 2023, 14:30)Besserwisser76 schrieb: Hallo zusammen,
leider hatte ich anderweitige Verpflichtungen und konnten gestern Abend den Vortrag nicht besuchen. War jemand dort und mag berichten? War's gut/interessant?
Viele Grüße
BW 76
Erstaunlich war vor allem die extrem gute Frequentierung der Veranstaltung, die ich so nie erwartet hätte, da in der Presse ja m.E. doch eher "unscheinbar" bzw. versteckt inseriert worden war. Der Gemeindesaal drohte aus allen Nähten zu platzen, eilends mußten aus den benachbarten Einrichtungen der Gemeinde noch zusätzliche Stühle organisiert werden.
Ansonsten muß ich vorab sagen, daß ich persönlich vor allem aus Neugier und in der Hoffnung, bekannte Gesichter zu treffen (großteils gelungen) dort war, am Thema selbst bin ich nicht zuletzt wohnortbedingt seit frühester Kindheit in verschiedener Hinsicht "direkt dran" gewesen, die einschlägige Literatur sowohl von Filderstädter (Geschichtswerkstatt / Nikolaus Back) als auch SSB-naher Seite (G. Bauer e. al.) hatte ich schon frühzeitig regelrecht "verschlungen". Ich möchte mich deshalb mit einem inhaltlichen Urteil zurückhalten bzw. auf die mir selber neuen Aspekte beschränken, aber klar muß natürlich sein, daß mit diesem Thema grundsätzlich wesentlich mehr als nur ein Abend gefüllt werden könnte.
Nach einer Begrüßung durch die Leiterin des Möhringer Heimatmuseums gab der Referent N. Back dann einen Abriß über die Entwicklung des Eisenbahnbaus im Königreich Württemberg allgemein ab 1845 bis zur relativ späten Anbindung Vaihingens an die Gäubahn (1879), wodurch der große Rest der Filder aber immer noch im Verkehrsschatten lag. Die "vergessenen" Gegenden anzubinden wurde nunmehr das große Betätigungsfeld der neu zu gründenden Privatbahnen. Gleichzeitig suchte die immer mehr prosperierende Maschinenfabrik Esslingen unter ihrem Leiter E. Keßler aber auch neue (nichtstaatliche) Kunden, wofür sie Referenzprojekte benötigte. Eines davon wurde schließlich die ursprünglich dampfbetriebene Zahnradbahn Stuttgart - Degerloch, und davon ausgehend das dort anschließende Netz der Filderbahn-Gesellschaft, die wiederum aus diversen örtlichen Bahn-Komitees hervorging. Diese hatten ihre finanzielle Beteiligung teilweise allerdings auch davon abhängig gemacht, daß die projizierten Bahnstrecken wenigstens in der Nähe ihrer jeweiligen Orte vorbeiführte.
Somit waren wir direkt beim Hauptthema, der 1897 eröffneten "Unteren Filderbahn" von Möhringen über Unteraichen, Echterdingen, Bernhausen nach Neuhausen mit ihrer Streckenführung, die vor allem ab Bernhausen damals geradezu merkwürdig "peripher" wirkte. Theoretisch hätte man ohne größere Probleme auch dem Verlauf des (wesentlich ortsnäheren) Katzenbachs folgen und dann immer noch auf den (topograhisch günstigen und somit preiswert zu bauenden) Nordrand des Fleinsbachtals gelangen können, aber da war eben in diesem Fall aus o.g. Gründen das Filderbahnkomitee Bonlanden vor.
So stand nun die (ursprüngliche) Trassierung der Strecke fest, im Zuge ihrer Erbauung erhielt auch Möhringen seinen heutigen Bahnhof anstelle des Vorgängerbaus an der Rembrandtstraße, der sich im Laufe der Jahre zum imposanten, mehrspurigen Betriebsmittelpunkt der Filderbahn entwickelte. Ebenso entstand auch die Strecke nach Vaihingen, womit der Anschluß an das württembergische Staatsbahnnetz hergestellt war (erst knapp zwei Jahrzehnte später folgte die Strecke über die Spitaläcker nach Vaihingen-Ort mit den dortigen Schleifen bis hin nach Rohr und einer ersten Verknüpfung mit dem SSB-Netz).
Nun folgte, natürlich auch mehr oder weniger gestrafft, die weitere Entwicklung: das Aufgehen der Filderbahngesellschaft in den Württembergischen Nebenbahnen aufgrund der Beteiligung an den externen Bahnprojekten im Strohgäu und auf dem Härtsfeld (wo auch ein reger Austausch der eingesetzten Fahrzeuge stattfand) die teilweise oder (im Fall Möhringen - Neuhausen) vollständige Einführung der Regelspur, die diversen Umtrassierungen, der Niedergang nach dem ersten Weltkrieg und die Übernahme durch die neu gegründete DRG, verbunden mit dem Bau weiterer Anschlußstrecken (Rohr - Leinfelden - Echterdingen), die "Umwidmung" der ursprünglichen Trasse Möhringen - Unteraichen (-Leinfelden - Echterdingen-Ort) zur straßenbahnartigen Überlandbahn, die weitere "Verstraßenbahnung" der Oberen Filderbahn im Zuge der Übernahme des Netzes durch die SSB, der Bau von Flughafen und Autobahn mit Unterstützung der Unteren Filderbahn, deren anschließender Niedergang im Personenverkehr durch die ungünstige Streckenführung und die wachsende Konkurrenz durch Omnibusse, die Industrialisierung der Filderorte nach dem zweiten Weltkrieg entlang der Bahnlinie mit einem (vorübergehenden) Wiederaufblühen des Güterverkehrs bis in die 1970er-Jahre, der sich ab dann (mutmaßlich durch den Bau der neuen B27?) aber ebenfalls zunehmend auf LKW's verlagerte.
1983 dann die Einstellung des Gesamtverkehrs Leinfelden - Neuhausen mit bald darauffolgendem Streckenabbau (damals gab es das Schlagwort des "diskriminierungsfreien Netzzuganges" als Erschwernis für eine endgültige Streckenstillegung leider noch nicht, bis zuletzt gab es Interessenten sowohl für gelegentlichen Sonderverkehr als auch für einen wenigstens rudimentären Planverkehr), die Umgestaltung der Trasse zu Radweg und Parkplätzen, der Modellnachbau des moebac Filderstadt e.V. ab 1985, mehrere Projekte und Ausstellungen der Geschichtswerkstatt Filderstadt ab 1990, die schrittweise Einbeziehung der Strecke ins S-Bahnnetz (1989 Oberaichen, 1993 Flughafen, 2001 Filderstadt-Bernhausen, 2027(?) Neuhausen).
Interessant und auch neu für mich waren vor allem bei der Präsentation die seltenen Aufnahmen der alten Bahnhöfe in Degerloch (ursprünglicher Vorgängerbau der später legendär gewordenen "Hundehütte" am Übergang von Zahnrad- und Reibungsbahn) und Plieningen (alte Trasse entlang der Filderhauptstraße, nahe der Wirtschaft zur "Garbe"), eines schweren Unfalls der Dampfstraßenbahn auf ebendieser, heute fast vergessenen, alten Trasse, sowie die Tatsache, daß viele örtliche und heute noch namhafte Radsportvereine der Filder damals aus dem Bedürfnis der Filderbevölkerung heraus entstanden, per Fahrrad zum nächstgelegenen Bahnhof zu gelangen. Der kurzweilig gehaltene Vortrag ließ insgesamt sowohl bei “Neulingen“ als auch “alten Hasen“ keine Minute Langeweile aufkommen.
Für allgemeine Heiterkeit sorgte auch die Präsentation des (aus der Literatur schon bekannten) Bildes des ehemaligen Personenwagens D2 als sattelbedachtes Gartenhäuschen in Vaihingen, bevor es dem Autobahnbau weichen mußte. Hierzu eine Frage: nach Zwischenstationen u.a. in Dörzbach habe ich den Wagen zuletzt Anfang der 2000er-Jahre als Ruine in der Zuffenhäuser Werkstatt gesehen, im SHB-Magazin wurde damals auch schon spekuliert, in welcher Form man ihn künftig aufbereiten und präsentieren könnte. Danach scheint sich aber seine Spur etwas zu verlieren. Befindet er sich heute noch im Cannstatter Magazinbestand, oder gibt es sonst etwas Neues von ihm (natürlich ist mir klar, daß der SHB aktuell noch genug andere Projekte am Laufen hat)? Über Auskunft würde ich mich freuen.
...im Übrigen bin ich der Meinung, daß die U15 in die Nordbahnhof- und Friedhofstraße gehört! (frei nach Marcus Porcius Cato d.Ä.)